Grundhaltungen der Achtsamkeit und die 7 Säulen der inneren Einstellung nach Jon Kabat-Zinn
Achtsamkeit ist heutzutage in aller Munde. Aber ist das nicht so was aus der Esoterik Ecke? Ommmmm und Meditation? Eso und Mukke? Was hat Achtsamkeit im Coaching zu suchen, wo es hier doch speziell um Vocal Coaching geht und nicht um ein x-beliebiges anderes Achtsamkeits-Bindestrich-Coaching?

Achtsamkeit (im englischen mit „mindfulness“ übersetzt), bedeutet erst einmal nichts anderes als die bewusste Steuerung unserer Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Wir nehmen unsere Gedanken, Gefühle, Körpersignale und Sinneseindrücke genau jetzt in diesem Augenblick wahr, möglichst ohne sie zu bewerten.
Und hier wartet direkt die erste Schwierigkeit: wir bewerten eigentlich ständig. Alles, was wir sehen, beobachten, schmecken, fühlen, riechen, erfahren usw. wird in Sekundenbruchteilen bewertet. Und zwar nach unserem eigenen Bewertungsschema. Ob das nun der objektiven Wahrheit entspricht oder nicht, bleibt offen und höchst individuell. In jedem Fall entspricht es unserem eigenen konstruierten Bild unserer inneren Welt. Dabei sollten wir als Coaches genau das nicht tun, wenn wir wertfrei coachen wollen. Achtsamkeit ist demnach eine innere Haltung von Neugierde, von Offenheit und von Gleichmut, die immer wieder aufs Neue bei uns selbst anfängt.
Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn, ein wahrer Pionier in Sachen Achtsamkeit, hat 7 Säulen der inneren Einstellung definiert, die uns auch für unser Coaching wertvolle Hinweise liefern können:
1) Nicht-Urteilen
2) Geduld
3) Den Geist des Anfängers bewahren
4) Vertrauen
5) Nicht-Erzwingen
6) Akzeptanz
7) Loslassen

1) Nicht-Urteilen
Wie bereits oben angemerkt, urteilen wir ständig. Es ist unser ganz natürliches Verhalten, das uns bereits in der Steinzeit vor Gefahren bewahrt hat. Quasi eine evolutionsbedingte Gabe. Auch heute noch sind wir oft unbewusst der „Macht des ersten Eindrucks“ erlegen. Prüfe dich selbst, wenn ein Coachee neu zu dir durch die Tür kommt: was läuft in deinem Kopf ab? Bist du wirklich zu hundert Prozent unvoreingenommen oder setzt du bereits ein erstes Puzzle zusammen, wie dein neuer Coachee sein könnte?
Hier setzt bereits die Achtsamkeit an: werde zum Beobachter, nicht zum Bewerter. Nimm dich als Coach zurück. Stelle Fragen anstatt dir vorschnell ein eigenes Bild zurecht zu zimmern. Unterstütze den Coachee in seinem eigenen Erleben anstatt ihm eine vorgefertigte Lösung anzubieten. Gib keine vorschnellen Ratschläge. Lass deinem Coachee Raum für Reiz und Reaktion. Beobachte und begleite.
2) Geduld
Geduldiges Zuhören ist ein wichtiger Faktor im Coaching: lenke den Fokus auf das Gegenüber. Lass dir erzählen, warum der Coachee heute hier ist, was er von dir braucht, was er erreichen möchte, was er vermeiden möchte, was seine Erfahrungen sind. Nimm dir Zeit, um genau hinzuhören. Je besser du verstehst, umso besser kannst du dein ganzes Coaching gestalten. Ein Coachingprozess braucht Zeit und Geduld. Gib deinem Coachee Raum und Zeit, um sich entwickeln zu können, um Dinge auszuprobieren und um eigene Schlüsse daraus ziehen zu können. Werde nicht ungeduldig, wenn eine Übung nicht auf Anhieb klappt. Sei geduldig mit dir und mit deinem Coachee.

3) Den Geist des Anfängers bewahren
Damit ist gemeint, dass man alles so betrachten sollte, als wäre es das erste Mal. Betrachte deinen Coachee jedes Mal aufs Neue. Wie ist es heute für deinen Coachee? Frag nach, wie es ihm heute geht, was er von dir braucht, was heute Stand der Dinge ist, mit welchem „Päckchen“ er heute zu dir gekommen ist, was ihn bewegt, was ihn begleitet hat, wie es beim Üben gelaufen ist usw.
Versuche dich in jeder Coachingsession freizumachen von dem, was du bereits gehört hast. Daraus ergeben sich jedes Mal neue Möglichkeiten und neue Fragen können entstehen. Löse dich von der Vorstellung, ein vorgefertigtes Bild davon zu haben, wie weit dein Coachee sein sollte. Gehe mit einem frischen und wachen Blick in jede neue Coachingsession. Dabei darfst du gerne deine eigenen Sinneswahrnehmungen einbringen. Nimm die Mimik und Gestik deines Coachees wahr. Und auch hier wieder: bewerte nicht, sondern beobachte und beschreibe nur. Lade deinen Coachee dazu ein, selbst den Anfängergeist zu kultivieren: zum Beispiel indem er sich auf neue Methoden einlässt, oder neue Übungen ausprobiert. Ermutige ihn selbst, wahrzunehmen wie es jetzt gerade ist, indem du kluge Fragen stellst.
4) Vertrauen
Mit Vertrauen ist hier gemeint: das Vertrauen in sich selbst und in den anderen. Je mehr Vertrauen ich in mich selbst habe, umso mehr Vertrauen kann ich auch meinem Gegenüber schenken. Für deinen Coachee könnte das bedeuten, dass er sich selbst auch beim Üben mehr vertrauen soll. Lehrer, Trainer und Coaches geben Anweisungen und Richtlinien vor. Dein Coachee erlebt dies aber möglicherweise nicht so, wie du selbst. Als Richtlinie könnte in deinem Coachee deshalb z.B. gelten: wenn sich etwas nicht gut anfühlt, dann ist es auch nicht gut. Dein Coachee darf lernen, auf den eigenen Körper zu hören.
Darüber hinaus kann uns jede Begegnung mit einem Gegenüber aus der Komfortzone herauslocken. Achte deshalb darauf, deinem Coachee eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schenken und Räumlichkeiten zu schaffen, in dem ein Arbeiten in einer guten und entspannten Atmosphäre möglich ist. Dazu könnte ganz konkret gehören: keine Mithörer, keine anderen Personen im Nebenraum, keine Wartebank vor der Tür, das Smartphone nicht offensichtlich auf dem Tisch usw.
Für dich als Coach bedeutet das Thema Vertrauen auch, dass du auf deine eigene Wahrnehmung vertraust. Dass du deinem Bauchgefühl vertraust. Oder dass du Vertrauen in deine eigenen Fähigkeiten hast, für jeden Coachee den passenden Coachingprozess zu gestalten.

5) Nicht-Erzwingen
Weniger wollen, mehr Sein. Moment mal: wir sollen als Coach unserem Coachee doch helfen, seine Ziele zu erreichen? Wie passt das denn nun zusammen?
Mit „Nicht-Erzwingen“ ist gemeint, dass wir die Ziele im Blick behalten sollen, aber nicht verbissen daran festhalten. Wenn ein Weg nicht funktioniert, dann vielleicht ein anderer. Nicht-Erzwingen-Wollen bedeutet auch, flexibel zu bleiben. Sich im gegenwärtigen Moment zu verankern. Alternativen suchen. Vertrauen in das Bauchgefühl haben. Und eine feine Wahrnehmung zu etablieren.
Das Motto darf hier gerne lauten: Klammere dich nicht zwanghaft an die Ziele, sondern genieße den Weg dorthin.
6) Akzeptanz
Akzeptanz bedeutet nicht blindes Akzeptieren von allem, sondern die Gegenwart so zu nehmen wie sie ist. Im jetzigen Augenblick. Den Gefühlen Raum geben. Es geht hierbei um das Wahrnehmen und das Annehmen.
Und es geht auch darum, einen möglichen Nicht-Fortschritt oder gar einen Rückschritt anzunehmen. Klingt einfacher als es ist? Auf jeden Fall! Aber auch das gehört zu einer Reise. Wenn dein Coachee also das nächste Mal frustriert ist, dass es nicht so schnell geht wie gewünscht oder sich Erfolge nicht so schnell einstellen, wie man das immer so gerne hätte, dann gib ihm Mut und schaffe einen großen Raum für Akzeptanz: er darf das bisher Geleistete anerkennen und wertschätzen. Auch Tränen dürfen zugelassen werden. Alles an Gefühlen ist absolut okay. Sie dürfen passieren und das ist auch gut so. Denn von hier aus kann es weitergehen.
7) Loslassen
„Loslassen heiß zulassen“, schreibt Jon Kabat-Zinn in seinem Buch. Als Coach und als Coachee dürfen wir die Dinge so akzeptieren wie sie sind. Auch das bedeutet Achtsamkeit. Zum Loslassen aus der Sicht des Coachs gehört dabei auch, dass bereits vorgefertigte Fragen und Methoden im Kopf losgelassen werden können. Loslassen könnte demnach auch ein Einlassen können auf den gegenwärtigen Moment sein. Was braucht es denn jetzt in diesem Moment für unser Coaching? Wie kann es von hier aus weitergehen? Welche Impulse könnten wichtig sein für unseren Coachee. Welche Übung könnte jetzt helfen?
Das Credo im Coaching darf gerne lauten: Nicht in einer Situation / Übung / Methode / ... verharren. Lass dich auf den Coachee ein. Und ganz wichtig: ist ein Coachingprozess zu Ende, dann lass auch das los. Zweifle nicht zu sehr an dir, wenn jemand nicht mehr zu dir kommt. Akzeptiere die Entscheidung deines Coachees. Du bist für eine bestimmte Zeit ein Wegbegleiter. Wenn die Zeit vorbei ist (und auch das darf der Coachee selbst entscheiden!), dann lass ihn weiterziehen. Du darfst es dir ebenfalls erlauben, deine Gedanken und Gefühle darüber loszulassen.

Neben diesen 7 Säulen gibt es noch weitere geistige und seelische Qualitäten, wie z.B. Rücksichtnahme, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Duldsamkeit, Versöhnlichkeit, Wohlwollen, Gelassenheit, Mitleid ebenso wie „Mitfreude“.
Puh, ganz schön viel Raum, die diese Achtsamkeit braucht. Aber glaube mir, es lohnt sich in jedem Fall, ab sofort noch ein bisschen bewusster darauf zu schauen, wie du mehr Achtsamkeit in deinen Coachingalltag bringen kannst. Beobachte dich doch gerne heute mal selbst: in welchen Bereichen gelingt dir das schon gut und wo macht es dir noch immer Mühe, achtsam und gelassen zu bleiben? Wo ist dein "mind full" und wo bist du direkt im "Mindful Coaching" angekommen?
Viel Spaß beim achtsamen Coachen im Hier und Jetzt.
Liebe Grüße,
Michaela
Quelle: Jon Kabat-Zinn, "Gesund durch Meditation - Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR, Verlag Knaur.Leben, 2019
Bildquelle: Mediathek von wix
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